Ereignishorizont Digitalisierung - Medizin

Die digitale Revolution in der Medizin

Die Digitalisierung trifft und verändert viele Berufsbilder. Auch Ärzte. Natürlich auch Ärzte! Tatsächlich wird die Kompetenz, die Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, gerade für Mediziner zu einem erfolgskritischen Faktor – egal ob für Allgemeinmediziner oder für Fachärzte. Digitalisierung meint an dieser Stelle: die Digitalisierung von Abläufen in Arztpraxen, die Nutzung digitaler Lösungen für die Kommunikation zwischen Arzt und Patient bzw. zwischen Arztpraxis und Patient, die Nutzung digitaler Gadgets von Patienten. 

Die langfristig gravierendsten Veränderungen verursacht die Digitalisierung aber vor allem im Bereich der datengetriebenen Diagnose und Erarbeitung von Therapievorschlägen. Viele (alle?) Ideen und Anwendungen der Digitalisierung basieren auf der intelligenten Verarbeitung von Daten. Im Mittelpunktstehen jetzt medizinische Daten bzw. komplexe biologische Datensätze: Blutwerte, Laborwerte, Medikationen, Röntgenbilder, CRT- und MRT-Scans, aber auch Daten zu Krankheitsverläufen oder körperliche Beobachtungsdaten zu Herzfrequenz oder Schlafrhythmus (gesammelt z. B. von Fitness-Armbändern). 

Für die Digitalisierung der Medizin gilt dabei folgende Grundannahme: Die bestmögliche Behandlung für einen Patienten zu finden erfordert die Erfassung, Verknüpfung und Analyse einer Vielzahl an Daten. Schon Daten zu einem einzelnen Patienten sind wertvoll. Daten über sehr viele Patienten sind dagegen ein wahrer Schatz und eigentlicher Treiber der Chancen der Digitalisierung der Medizin. Anders gesagt: War die Medizin bislang vor allem eine „Erfahrungswissenschaft“, wird sie durch die Digitalisierung immer mehr zu einer datengetriebenen Disziplin. Diagnosen sollen dadurch schneller und genauer werden, Therapien wirksamer und weniger belastend. 

Dass die Bäume technologisch heute noch nicht in den Himmel wachsen, was noch zu erheblicher Skepsis bei vielen Medizinern führt, zeigt das Beispiel des IBM Watson

IBM Watson – Im Tal der Enttäuschung 

Watson ist eine Software von IBM, die Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) anwendet, um verschiedenste schwierige Aufgaben zu lösen. Ziel soll eine intelligente Maschine sein, die den Sinn einer in natürlicher Sprache formulierten Frage verstehen und die dann in einer sehr großen Datenbank, die ebenfalls Texte in natürlicher Sprache umfasst, innerhalb kurzer Zeit relevante, also hilfreiche Passagen und Fakten auffinden kann. 

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Video: Was ist IBM Watson?

Ein Pilot-Anwendungsbereich für IBM Watson war und ist die Medizin. IBM schreibt dazu: „In Zukunft wird es immer wichtiger sein, aus der Vielzahl an Daten die derzeit relevanten Informationen gezielt und rasch herausfiltern zu können und diese entsprechend anzuwenden. Dies ist nicht trivial, denn die Definition von „relevante Information“ ist durchaus relativ und abhängig vom Kontext und Anwendungsfall. Das kognitive System IBM Watson unterstützt genau in diesem Bereich und sorgt dafür, dass Ärzte ihre Zeit optimal für die Patientenbehandlung nutzen können.

IBM Watson war und ist angetreten, datengetriebene Medizin möglich zu machen. Es bleibt allerdings festzuhalten: Das hat bislang nicht geklappt! In der letzten Zeit ist viel darüber zu lesen, dass Watson beim Einsatz in medizinischen Anwendungsfeldern, insbesondere im Bereich der Krebsdiagnose, nicht die erwarteten Resultate liefert. Viele Projekte werden eingestellt bzw. nicht weitergeführt – in den USA wie auch in Deutschland. Das Wallstreet Journal schreibt: Über ein Dutzend Partner und Kunden von IBM hätten nach Milliardenausgaben onkologische Watson-Projekte gestoppt oder geschrumpft. 

In der Praxis hat sich das System als deutlich weniger intelligent als erhofft erwiesen: „Offenbar waren die Ziele, die sich IBM und Partner auf diesem Feld gesteckt hatten, zu ambitioniert. Die Idee war, dass Watson elektronisch vorliegende Patientenakten mit bisherigen Erkrankungen und Behandlungen, Studien aus Tausenden von wissenschaftlichen Zeitschriften, Behandlungsrichtlinien und Krankenhaus-Datenbanken analysieren und dem Arzt eine Reihe möglicher Behandlungsoptionen mit zugehörigen Erfolgsaussichten darreichen sollte. Doch Krebs ist kein leichter Gegner: die Krankheit zeigt sich in hunderten Varianten mit eigenen genetischen Merkmalen, für die jeweils andere Therapien nötig sind. Deutsche Krebsmediziner verweisen auf das zusätzliche Problem, dass das System jahrelang mit Daten aus einem US-amerikanischen Krankenhaus für Wohlhabende trainiert worden sei und darauf zugeschnittene Lösungen vorschlage, die nicht immer für den Rest der Welt passten.

Trotzdem gilt: 

Es ist wichtig weiter zu machen!  

Die mit Watson gemachten Erfahrungen dürfen und werden jedoch nicht dazu führen, dass das Thema nicht weiterverfolgt wird. Tatsächlich sind die Chancen riesig – und dementsprechend widmen sich auch viele Unternehmen dem Thema in vielschichtiger Weise. Längst sind auch Google, Amazon, Facebook und Apple große und auch sehr gefragte Arbeitgeber für Mediziner, Biologen, Chemiker.Laut dem Spiegel investierte Amazon allein in 2016 mehr als 16 Milliarden Dollar in die Medizinforschung. Bei Google-Mutter Alphabet waren es mehr als 14 Milliarden Dollar. Microsoft investierte mehr als 12 Milliarden. Im Vergleich dazu investierte das größte deutsche Pharmaunternehmen Bayer gerade einmal etwas mehr als 5 Milliarden Dollar. Auch IBM arbeitet fortlaufend an der Weiterentwicklung und Verbesserung von Watson. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es am Ende klappt!

Im Fokus der Forscher in Unternehmen und an Universitäten steht die  Entschlüsselung der Biologie und damit verknüpft folgende Schlussfolgerung: Wenn Krankheiten am Ende ein Datenproblem sind, dann können diese – zumindest teilweise – von Softwareexperten gelöst werden. Der Organismus „Mensch“ wird zur Rechenaufgabe.

Beispiele

Mittlerweile zeigen viele spannende Projekte und auch schon Produkte, welche faszinierenden und vielversprechenden Chancen die Digitalisierung der Medizin bietet:  

Google erforscht, wie Algorithmen Hautkrebs auf Fotografien erkennen können, wie Software Depressionen besiegen kann, oder wie Herzinfarkte dank künstlicher Nanopartikel in den Blutgefäßen vorhergesagt werden können.

Facebook finanziert den Aufbau eines menschlichen Zellatlas mit 600 Millionen Dollar, um die Entwicklung neuer Medikamente zu ermöglichen. Die 600 Millionen sind Teil einer Gesamtsumme von 3 Milliarden Dollar, die Facebook investiert, um bis 2100 alle Krankheiten entweder heilen, verhindern oder managen zu können.

Amazon hat im November 2018 den Service „Amazon Comprehend Medical“ gestartet. Dieser Service nutzt Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) und Verfahren zur Texterkennung um Patientenakten zu analysieren und Auffälligkeiten zu erkennen.

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Video: Virtual Reality zur Erkennung von Schlaganfällen.

Die Virtual Reality App „Think F.A.S.T.“ von Qualcom ist das medizinische Äquivalent eines Flugsimulators für Ärzte. Ziel ist es Ärzte in die Lage zu versetzen, virtuell die Diagnose und Behandlung von Schlaganfällen zu lernen. F.A.S.T steht für “Facial drooping, Arm weakness, Speech difficulties, Time”, also vier auffällige Anzeichen für einen Schlaganfall.  

Auch die Sprache eines Menschen kann Rückschlüsse auf seinen Gesundheitszustand erlauben. So arbeitet das Projekt Parkinson’s Voice Initiative an einem Verfahren, bei dem allein anhand der Aussprache eines Menschen erkannt werden soll, ob dieser an der Parkinson-Krankheit leidet. Da der Test über eine einfach zu nutzende App erfolgt, in die nur einige Sätze gesprochen werden müssen, können im Erfolgsfalle viele Menschen auf extrem einfache Weise getestet werden („population-scale screening programs“). Der Vorteil ist – wie immer in der Medizin – die möglichst frühzeitige Diagnose von Parkinson. 

Ein in den USA an der Mayo Clinic in Florida programmiertes KI-System findet Muster von Vorhofflimmern, die der Arzt oft nicht sieht. Die KI-Lösung wurde mit knapp 650.000 EKG-Aufnahmen von rund 180.000 Patienten trainiert. Das KI-Programm erkennt wiederkehrendes Vorhofflimmern auf Basis eines Standard-Elektrokardiogramm (EKG) auch dann, wenn der Herzrhythmus im Moment der 10-sekündigen Aufnahme unauffällig ist. Irre: Welche Signale im EKG den Algorithmus konkret zu der Einschätzung veranlassen, können die Forscher aber nicht sagen.

MySugr ist eine Smartphone-Anwendung, die spielerisch den Alltag mit Diabetes erleichtern soll.Diabetes ist ein typisches Beispiel einer datengetriebenen Krankheit. Patienten müssen ständig mit Blutzuckerwerten, Insulin- und Kohlenhydratmengen umgehen. Die App kann mit Blutzuckermessgeräten verschiedener Hersteller kombiniert werden, sodass die Daten automatisch ausgewertet werden. Die Nutzer werden dann erinnert, wenn sie Insulin messen und spritzen müssen. Heute hat MySugr mehr als 100 Mitarbeiter und 1,4 Millionen Nutzer, die Hälfte davon in den USA.

In der Zukunft gefragt: Bioinformatiker und Medizininformatiker

Eine Überlegung, die sich für die Medizin unmittelbar aus der Digitalisierung heraus ergibt, ist die Frage danach, welche Berufsbilder zukünftig gefragt sind, um die Chancen der digitalen Medizin tatsächlich zu realisieren. So wie man Kardiologen, Onkologen oder Orthopäden braucht, wird man zukünftig sicher auch Ärzte brauchen, die sich speziell auf die digitale datengetriebene Diagnose und Therapie konzentrieren. Keiner kann alles! 

Valerie Lux schreibt dazu sehr schön in ihrem Bericht über den Münchner Gipfel zur Digitalgesundheit: Dass Oberärzte als Zauberer und Professoren als Götter wahrgenommen werden, ist lange vorbei. Nun steht die Digitalisierung und die maschinelle Auswertung von enormen Datenbergen im Vordergrund. Und weiter: „Die Ärztin von Morgen sei die Software-Entwicklerin mit Anatomiekenntnissen oder der Arzt, der auch die Struktur von Programmiersprachen verstehe.“ 

Tatsächlich ist schon heute zu beobachten, dass Berufsbilder verschwimmen. Einerseits strömen immer mehr Mediziner, Chemiker und Biologen in Technologieunternehmen. Andererseits arbeiten mehr und mehr Informatiker, Datenanalytiker und Programmierer bei Pharmafirmen und Universitätskliniken. Ganz besonders begehrt sind diejenigen, die beides können: Bioinformatiker und Medizininformatiker.

Fazit

Patienten dürfen berechtigterweise erwarten, dass Ärzte in der Lage sind, die Chancen der Digitalisierung zu erkennen und zu nutzen. Am Ende zählt – unterm Strich – weniger, ob man seinen Arzt mag oder nicht mag. Am Ende zählt vor allem der Diagnose- und Behandlungserfolg – und das umso stärker desto schwerer Befunde und Krankheitsbilder sind. 

Es ist davon auszugehen, dass Menschen in Zukunft ihre Ärzte sehr viel stärker danach auswählen, ob diese in der Lage sind, ihre Daten systematisch zu erfassen und auszuwerten– um die Behandlung und Begleitung des Patienten zu optimieren. Ziel darf für Mediziner nicht die Abwehr der Digitalisierung sein, sondern die Verpflichtung, die Digitalisierung aktiv und engagiert mitzugestalten, wie auch schon Digitalvordenker Sascha Lobo den Delegierten des 120. Deutsche Ärztetags mitgegeben hat.

Das die Digitalisierung der Medizin enorme Potenziale, auch finanzielle Potenziale, freisetzen kann, zeigt die Unternehmensberatung McKinsey, die in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Managed Care (BMC) eine Digitalisierungsdividende für das deutsche Gesundheitswesen berechnet hat. Das Ergebnis: Bis zu 34 Milliarden Euro kann jährlich eingespart werden, wenn die Gesundheitswirtschaft konsequent digitale Technologien anwenden würde – das entspricht gut einem Zehntel der jährlichen Gesamtausgaben.

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